Julia Paaß
Julia Paaß ist 1978 in Troisdorf geboren und später nach Ostdeutschland gezogen.
Rübergemacht: Julia wohnt aktuell in Prädikow, wo sie als Projektentwicklerin und Netzwerkerin für ländliche Räume und partizipative Prozesse arbeitet.
Foto: Jörg Gläscher, Robert-Bosch-Stiftung
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Weshalb hast du in den Osten rübergemacht?
Lange Jahre habe ich in Berlin gelebt und kannte nichts anderes. Brandenburg war nur das Umland für mich. Als die Mieten immer teurer wurden und sich die Gründung einer Familie abzeichnete, erweiterte ich meinen Suchradius und landete in einer Wohnung mit riesiger Streuobstwiese eine Stunde von Berlin entfernt im kleinen Dorf Prädikow. Seit sieben Jahren lebe ich dort. Seitdem habe ich die Gemeindezeitung Prötzeler Kurier mit aufgebaut, habe das genossenschaftliche Wohn- und Gewerbeprojekt „Hof Prädikow“ initiiert und entwickele gerade die „Dorfscheune Prädikow“ als lebendigen Treffpunkt für Alt- und Neu-Prädikower. Ich habe mich noch nie irgendwo so verbunden gefühlt wie mit diesem Ort.
Wie gestaltest du die Zukunft?
Ich interessiere mich dafür, wie in ländlichen Räumen Menschen, Ideen und Lebens- oder Arbeitsmodelle zusammenkommen können, die es dort zuvor in der Kombination nicht gab – und wie daraus Lebensqualität entstehen kann. Mit dem Netzwerk Zukunftsorte unterstütze ich als Mitgründerin bspw. Menschen dabei, neue Formen des Wohnens und Arbeitens auf dem Land auszuprobieren und sich dabei mit Umfeld und Nachbarn zu vernetzen, gemeinsam neue Angebote und offene Treffpunkte aufzubauen. So wird ein Coworking Space mit einem Dorfwohnzimmer kombiniert, ein Plattenbau wird zur kulinarischen Experiementier-Werkstatt, ein Näh-Club trifft sich im Haus des Wandels.
Glaubst du, Menschen in Ostdeutschland können besser mit Veränderungen bzw. Wandel umgehen?
Fühlst du dich ostdeutsch?
Nein. Mir fehlt die Geschichte einer Ostdeutschen. Ohne diese und die dazugehörige Prägung durch die Familie kann ich nur mutmaßen, wie man als Ostdeutsche*r die Welt sieht. Ich versuche es zu verstehen, auch das, was sich daraus ergibt. Doch mein Verstehen wird immer durch meinen Blick als Westdeutsche gefärbt sein. Umgekehrt bin ich hier immer ganz offensichtlich die aus dem Westen Zugezogene, die sich erst einmal daran gewöhnen musste, jedem auf dem Dorffest die Hand zu geben (und sich das nun aufgrund von Corona wieder abgewöhnen muss). Ich werde hier wahrscheinlich immer ein wenig exotisch wirken, fühle mich aber wohl, weil die meisten, die mich persönlich kennen, mich so akzeptieren wie ich bin.
Welche Erfahrungen hast du in Ostdeutschland gemacht?
Meine Bekannten waren ziemlich skeptisch: „In Brandenburg, da ist doch nichts. Mit wem soll man sich denn da unterhalten?“ Heute höre ich von allen Seiten: „Ihr habt damals alles richtig gemacht!“ Das finde ich auch. Nicht, weil uns der aktuelle Trend des Rausziehens aufs Land recht geben würde, sondern weil ich hier etwas gefunden habe, was ich vorher so nicht kannte: Das Gefühl von Eingebundenheit, die Möglichkeit gleich hier vor Ort etwas zu bewirken, die Gewissheit, dass ich auf viele im Dorf zählen kann, dass sie mit Feuereifer anpacken und Ruck-Zuck ein Dorffest auf- und wieder abbauen, während ich noch gähnend meinen ersten Kaffee trinke.
Glaubst du, Westdeutsche hatten nach der Wiedervereinigung im Osten Vorteile?
Ein wichtiger Aspekt: Die Westdeutschen kannten das für Ostdeutsche neue kapitalistische System und konnten es spielend anwenden. Dieser Vorsprung hat in einer Zeit des Umbruchs, wo viele Weichen gestellt wurden, ein großes Ungleichgewicht geschaffen.
Was hast du in Ostdeutschland gelernt?
Während meiner Zeit in meinem kleinen Dorf in Ostdeutschland habe ich einiges lernen dürfen:
1. Machen ist mehr Wert als Quatschen.
2. „Du und ich“ ist besser als „Ihr und wir“.
3. Mit Hartnäckigkeit und ein bisschen Glück kann man fast alles schaffen. Ohne den Rückhalt deiner Nachbarn jedoch nichts.
4. Viele Ostdeutsche trauen sich viel zu wenig zu. Sicher hat das Gründe in der Vergangenheit. Ich wünsche mir aber, dass gute Beispiele helfen, das zu ändern.
Was wünschst du dir für Ostdeutschland?
Mehr Selbstvertrauen, mehr Mut und Offenheit für neue Ideen und Menschen, mehr Experimentierraum anstelle von Leerstellen. Mehr echten, persönlichen Kontakt zu Wessis, Geflüchteten, Andersseienden und die Erkenntnis, dass jeder ein Individuum ist und Veränderung und Neues eine Chance sein kann. Mehr Wessis, die sich aufmachen, die Ossis wirklich kennen zu lernen und auf Augenhöhe gemeinsame Sache zu machen, anstatt Reden über die ostdeutsche Seele zu schwingen.