Andrea Weil
Weshalb bist du rübergemacht?
Nach meinem Studium der Diplom-Journalistik bewarb ich mich zwei Jahre lang bei verschiedenen Zeitungen in ganz Deutschland, während ich Erfahrungen als freie Journalistin sammelte. Schließlich entschied ich mich für die Märkische Oderzeitung in Frankfurt an der Oder, weil das Volontariat dort im Gegensatz zu zahlreichen (westdeutschen) Angeboten die Bezeichnung Ausbildung verdient hatte. Die Zeitung hat tatsächlich einiges investiert, damit wir uns fortbilden konnten. Schwedt war dann meine Wunschredaktion, als die Frage nach meiner Übernahme aufkam, weil ich die Kolleg*innen, die Menschen und die Natur im Unteren Odertal sehr schätzte. Nach Grimma zog ich schließlich der Liebe wegen.
Wie gestaltest du die Zukunft?
Als Lektorin coache ich Autor*innen, damit sie das Beste aus ihren Manuskripten herausholen. Wenn ich selbst schreibe, siedle ich meine Geschichten gerne im Lokalen an – witzigerweise habe ich in meinem Roman „Menschenwolf“ bereits über Brandenburg und Sachsen geschrieben, bevor ich hierher zog. In Schwedt arbeitete ich in der Lokalredaktion und lernte meine neue Heimat intensiv kennen. Später als Selbständige habe ich für Museum, Heimatverein, Wohnungsbaugenossenschaft und Mehrgenerationenhaus Texte verfasst, meine Schreibkompetenz in Kursen vermittelt und als Vorleserin die Schulen besucht. Der Herkules-Verlag veröffentlichte meine DDR-Anekdotensammlung. Außerdem war ich Schriftführerin im Chor.
Glaubst du, Menschen in Ostdeutschland können besser mit Veränderungen bzw. Wandel umgehen?
Fühlst du dich Ostdeutsch?
Nein. Ich weiß nicht, wie ich mich „ostdeutsch“ fühlen sollte, weil ich mich auch nie „westdeutsch“ gefühlt habe. Ich identifiziere mich mit lieben Menschen, weniger mit Landstrichen, und bin bereits in ganz Deutschland zuhause gewesen.
Welche Erfahrungen hast du in Ostdeutschland gemacht?
Meine Familie war zwar nicht glücklich, dass ich künftig fast 800 Kilometer entfernt leben würde, aber sie hat mich unterstützt.
Als Lokaljournalistin hat man die Möglichkeit, Menschen aus allen Lebensbereichen kennenzulernen und Kontakte zu knüpfen. Entgegen mancher Unkenrufe von Bekannten, freuten sich die Schwedter, dass eine junge Frau aus dem Westen zu ihnen kommt, während ihre Kinder eher weggehen. Nur selten habe ich erfahren, dass jemand eine harmlos gemeinte Bemerkung oder Frage („Wie komme ich am besten vom Bahnhof zur Pension?“) in den falschen Hals bekommen hat und mir als „Wessi“ unterstellte, den Osten für rückschrittlich zu halten.
Glaubst du, Westdeutsche hatten nach der Wiedervereinigung im Osten Vorteile?
Ich kann nicht aus eigener Erfahrung über Immobilienhaie oder große Firmen sprechen, die günstig alles mögliche aufkaufen konnten. Schwedt hatte sich Unterstützung aus der Partnerstadt Leverkusen herangeholt, um das neue Gesellschafts- und Verwaltungssystem kennenzulernen, aber umgedreht bringen sie jetzt Leverkusen bei, mit knappen Kassen umzugehen und Kinderbetreuung einzurichten. Dass ich so gut klarkam, ist für mich eher eine Stadt-Land-Frage als eine Ost-West-Frage, denn das habe ich auch in anderen Regionen erlebt.
Ich muss aber kritisch anmerken, dass ich eine weiße, deutsche Frau bin, denn von anderen Zuzüglern hört man z. T. andere Geschichten.
Was hast du in Ostdeutschland gelernt?
Ich erinnere mich, wie überrascht ich war, als ich in einer ostdeutschen Kita fragte, wie lange es die Einrichtung schon gebe: Seit den 60ern. Ein Jahr zuvor hatte ich in Westdeutschland einen Artikel geschrieben, als sechs Betreuungsplätze für Kinder unter drei Jahren wie die Erfindung des Rades gefeiert wurde. Dass Frauen arbeiten gehen, dass Pärchen nicht verheiratet sein müssen, um zusammenzuleben – das scheint alles im Osten selbstverständlicher und fortschrittlicher zu sein. Nachträglich ist es bedauerlich, dass z. Bsp. die alten SED-Zeitungen überstürzt an westdeutsche Großverlage verkauft wurden, die nach und nach alle Neugründungen geschluckt und die Meinungsvielfalt verringert haben
Was wünscht du dir für Ostdeutschland?
Ich wünsche mir, dass Menschen aus Ostdeutschland erkennen, wie schön ihre Heimat ist, und selbstbewusst darüber reden, ohne irgendwas überkompensieren zu müssen (mit übertriebenem Patriotismus) und ohne zu vergleichen, was „früher besser war“. Es ist beeindruckend, was viele Ehrenamtliche leisten und wie die Städte ihren Haushalt besser im Griff haben als westdeutsche Pendants, weil sie es gewohnt sind, zu improvisieren.