Wir sind der

Osten

Gesa Müller-Schulz

Gesa Müller-Schulz

Gesa Müller-Schulz ist 1983 in Katzien geboren und später nach Ostdeutschland gezogen.

Rübergemacht: Gesa wohnt aktuell in Berlin, wo sie eine Plattform gegründet hat, die in der Klimakrise Forstleute mit Freiwilligen vernetzt.

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Weshalb hast du in den Osten rübergemacht?

Ich war 2009 mit meinem Politikstudium fertig. Da lagen die Jobs nicht auf der Straße. Berlin schien mir der Ort, an dem ich es trotzdem schaffen könnte, mir etwas aufzubauen. Das war teilweise hart, denn ich habe Hartz IV bezogen und mir kam die Zukunft oft perspektivlos vor. Aber Berlin war ein Ort, an dem es okay war, sich so zu fühlen, in schlechten Klamotten auf die Straße zu gehen und trotzdem zu denken: „Wird schon!“ Hier gibt es viele Menschen, denen ich gerne aus dem Weg gehen möchte. Und es gibt genügend Raum dafür. Und Menschen mit denen man sich selbst entdecken kann. Mein Heimatkaff hat 40 Einwohner. Berlin ist dem sehr ähnlich. Nur das hier das Nachbardorf viel schneller erreichbar ist.

Wie gestaltest du die Zukunft?

Deutschland Forstet Auf vernetzt in Zeiten der Wald-/ Klimakrise Forstleute mit Freiwilligen, die diese anpacken wollen. Beide Gruppen finden über unsere Plattform einen Weg, ihre Sorgen in etwas Wertvolles zu verwandeln. Ich beobachte, dass die Menschen nach den Pflanzungen noch oft im Gespräch bleiben. Ich bin überzeugt, dass aus diesen Veranstaltungen viele kreative Ideen und neue Freundschaften entstehen. Ich bin schon immer jemand gewesen, der Potenzial in anderen Menschen gesehen hat und mich und andere vernetzt hat. Jetzt treten wir auch mit Menschen in Verbindung, die sich einmal im Schatten dieser Bäume ausruhen werden: all die Generationen, die nach uns kommen. Das ist pathetisch. Aber es ist auch so.

  • 1983

    Katzien

  • Endwell

  • Madrid

  • Lyon

  • Trier

  • Wien

  • Heute

    Berlin

Glaubst du, Menschen in Ostdeutschland können besser mit Veränderungen bzw. Wandel umgehen?

3 von 5
Stimme gar nicht zu
Stimme voll und ganz zu

Fühlst du dich ostdeutsch?

Nein. Ich bin Katzienerin. In Bezug auf mich stimmt: Du kannst das Dorfkind aus dem Dorf holen, aber das Dorf nicht aus dem Kind. Ich bin zudem so nah an der Grenze zu Ostdeutschland aufgewachsen, Grenzgebiet an der Elbe, ohne Anschluss an eine Autobahn, ohne viel TV; sehr strukturschwache, arme Gegend. Ich hatte eine sehr untypische Kindheit. Ich identifiziere mich deswegen nicht mit dem, was andere als eine typisch westdeutsche Kindheit erlebt haben. Oft weiß ich mit dem, worüber sie reden, schlicht nichts anzufangen und höre eher interessiert zu.

Welche Erfahrungen hast du in Ostdeutschland gemacht?

Ich entstamme einer typischen norddeutschen Familie. Nix zu sagen, ist Kompliment genug. Ich bin da eher der Paradiesvogel, denn ich rede gerne. Auch über mich. Deswegen fanden sie, dass Berlin ganz gut zu mir passen würde. Am Anfang haben sie sich Sorgen gemacht, weil der Arbeitsmarkt so schwierig war. Sie haben sich sehr gekümmert und mich immer wieder aufs Land geholt, damit ich mich erholen kann. Trotz meines Status habe ich schnell Bekanntschaften und Netzwerke erschlossen. Berlin ist voll mit Menschen, die neu hier sind. Die Praktikantin von gestern, kann morgen schon eine CEO sein. Ich weiß nicht, ob das am Osten liegt. Vielleicht mehr, dass wir hier nicht nur uns selbst, sondern auch die Stadt aufbauen.

Glaubst du, Westdeutsche hatten nach der Wiedervereinigung im Osten Vorteile?

Die Westdeutschen hatten einen Vorsprung im Wissen, wie Kapitalismus funktioniert und haben diesen Vorsprung auch genutzt. Manchmal ertappe ich mich, dass ich Ostdeutschen meiner Generation unterstelle, dass sie überkompensieren, in dem, wie sie den Kapitalismus leben. Gleichzeitig galt ja auch in der Schule der westdeutsche Lehrplan. Unser Geschichtsunterricht handelte immer von der westlichen Perspektive. Dass das nicht angepasst wurde, empfinde ich jetzt als Verlust und ich kann mir vorstellen, dass Jugendliche und Kinder aus dem Osten latent damit aufgewachsen sind: „Mit uns ist was falsch.“ Es ist, wie es ist, und der einzige Weg zur Veränderung ist, offen darüber zu reden.

Was hast du in Ostdeutschland gelernt?

Prägend war die Lichterkette 2014 zum 25-jährigen Jubiläum des Falls der Mauer. Wir hatten uns zufällig in einer Gruppe von Freunden zusammengefunden, die es ohne den Fall der Mauer so nicht gegeben hätte. Das wurde uns erst vor Ort bewusst und die Erkenntnis stand plötzlich im Raum. Das war sehr emotional. Plötzlich sprach mich eine Frau von hinten an. Sie war auf meiner Schule zwei Jahrgänge unter mir gewesen. Ich hatte vorher keine zwei Sätze mit ihr gewechselt und hier fielen wir uns in die Arme. Ich glaube, dass Geschichte in uns drin lebt. Das gilt nicht nur für Familiengeschichten, sondern wohl auch für Erlebnisse, die größer als ein Mensch sind.

Was wünschst du dir für Ostdeutschland?

Mehr Wald.