Landesbischöfin a.D. Ilse Junkermann
Ilse Junkermann ist 1957 in Dörzbach an der Jagst geboren und später nach Ostdeutschland gezogen.
Rübergemacht: Ilse wohnt aktuell in Leipzig, wo sie an der Universität forscht.
Foto: Wolfgang Zeyen, Der SONNTAG
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Weshalb hast du in den Osten rübergemacht?
2009 wurde ich zur ersten Landesbischöfin der Evangelischen Kirche in Mitteldeutschland (EKM) gewählt. Das blieb ich bis 2019. Die EKM ist aus der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Thüringen und der Evangelischen Kirche der Kirchenprovinz Sachsen entstanden. Ich sollte die erste Wegstrecke der fusionierten Kirche begleiten, als eine, die Erfahrung mit der Kirchenleitung hatte und – von außen kommend – sowohl eine gewisse Distanz zur Fusionsgeschichte als auch Verständnis und Kenntnisse der mittel- und ostdeutschen kirchlichen Situation mitbrachte.
Wie gestaltest du die Zukunft?
Heute hole ich mit der Forschungsstelle „Kirchliche Praxis in der DDR“ an der Universität Leipzig Erfahrungen, Erkenntnisse, Konzeptionen von Kirche in der DDR in die Gegenwart. Dabei mache ich – hoffentlich gesamtdeutsch – bewusst, dass die Gegenwart im Osten und auch in den mitteldeutschen und östlichen Gliedkirchen aufgrund der anderen Geschichte eine andere ist. Sie braucht eine andere praktisch-theologische Reflexion. Ich lege Grundlagen für weitere Forschungen, indem ich etwa eine ausführliche Bibliographie erstelle. Außerdem werde ich mit Zeitzeug*innen sowie Expert*innen Grundlagen für Forschungsanträge erstellen, ein Who’s who der Kirchen in der DDR aufbauen, eine Sammlung von schwer zugänglichen Dokumenten anlegen sowie Interviews mit Zeitzeuginnen und Zeitzeugen führen.
Glaubst du, Menschen in Ostdeutschland können besser mit Veränderungen bzw. Wandel umgehen?
Fühlst du dich ostdeutsch?
Ja. Ich lebe hier, und ich lebe gerne hier. Ich bringe Erfahrungen aus verschiedenen süddeutschen Orten und aus Norddeutschland mit und freue mich, nun in der mitteldeutschen Wiege der europäischen Kultur zu leben und zu arbeiten. Hier habe ich teil an einer reichen wie auch schweren Geschichte und einem guten, aufrechten und aufrichtigen Miteinander.
Welche Erfahrungen hast du in Ostdeutschland gemacht?
Manche hatten mir von einem Umzug abgeraten – wegen der vielen rechtsextrem eingestellten Menschen. Das war vor zwölf Jahren! Ich bin beeindruckt von dem großen Engagement der Menschen aus der Zivilgesellschaft gegen Rechtsextremismus und Antisemitismus. Mich bedrückt, wie schnell die befreienden Erfahrungen der Friedlichen Revolution gewendet wurden zu einer Entwertung so gut wie aller Erfahrungen. Die Menschen hatten zu wenig Zeit und Möglichkeiten, die Veränderungen wirklich mitzugestalten und zu beeinflussen. Umso größer ist mein Respekt vor ihrer Lebensleistung, sich in einer ganz anderen Gesellschaft zurecht zu finden, sich umzustellen auf andere Regeln und Gesetze usw.
Glaubst du, Westdeutsche hatten nach der Wiedervereinigung im Osten Vorteile?
Sie waren und sind mit dem System, den Regeln und Gesetzen, der politischen Kultur usw. vertraut. Für ostdeutsche Menschen waren die alle neu. Westdeutsche Menschen bringen die entsprechenden Netzwerke mit; sind bzw. sehen sich frei von den Lasten aus zwei Diktaturen. Dies alles trägt zu einem größeren Selbstbewusstsein bei, das viele Vorteile mit sich bringt.
Was hast du in Ostdeutschland gelernt?
Aus westlicher Sicht ist die Wiedervereinigung abgeschlossen – für die Menschen im Westen hat sich auch wenig Grundlegendes geändert. Aus mittel- und ostdeutscher Sicht ist die Wiedervereinigung in vieler Hinsicht eher ein Anschluss, bei dem viele Erfahrungen plötzlich nichts oder kaum noch etwas wert waren. Eine eigene ostdeutsche Identität zu entwickeln, selbstbewusst und -kritisch zugleich, das ist immer noch eine große Aufgabe. Dazu gehört auch das Miteinander mit Menschen, die aus anderen Regionen hierher kommen und Heimat finden wollen. Und dazu gehört der Respekt von westdeutsch Sozialisierten vor dieser Aufgabe und ihr Interesse an einem wirklich gesamtdeutschen Miteinander.
Was wünschst du dir für Ostdeutschland?
Einen differenzierten Blick auf die DDR-Geschichte, auf die Menschen und ihre Erfahrungen; Respekt vor ihrer anderen Geschichte, die bis in die Gegenwart wirksam ist; Selbstbewusstsein, das sich nicht absolut setzt, Diskurse und Diskussionen auf Augenhöhe aller Beteiligten.