Wir sind der

Osten

Julianne Becker

Julianne Becker ist Co-Founder und Director of Communications, Community und International Relations von Coconat, 1978 in Minneapolis geboren und in in St. Louis aufgewachsen und hat sich später für Ostdeutschland entschieden.

Rübergemacht: Julianne wohnt aktuell in Klein Glien, Bad Belzig.

Foto: Daniela Singhal

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Weshalb hast du in den Osten rübergemacht?

Ich bin nach Berlin gezogen und habe dort vier Jahre lang im Ostteil der Stadt gelebt. Mit meinem Partner habe ich mir ein Konzept erarbeitet, das besonders in die Natur passt. Dazu mussten wir nahegelegene Orte im schönen Brandenburg finden. Um positiven Einfluss zu nehmen, wollten wir mit den Menschen der Region unseres Projekts in Kontakt kommen. Dabei sind wir sehr herzlich empfangen worden. Jetzt sind wir glücklich über die Entwicklung unseres Projekts – aber auch über unsere Persönliche.

Wie gestaltest du die Zukunft?

Als Co-Founderin von Coconat arbeite ich jeden Tag daran, das Leben all der Menschen positiv zu beeinflussen, die unsere Region besuchen und bewohnen. Coconat steht für Gemeinschaft und Arbeit in der Natur. Wir sind ein „impact driven“ Unternehmen, das heißt, dass wir unseren Wert eher an positivem Einfluss messen als an Kapitalwachstum. Dazu sind wir in der Lage durch unser innovatives Tourismusmodel, das Arbeit und Zusammenarbeit, gemeinschaftliches Leben und besondere Projekte der ländlichen Entwicklung miteinander verbindet.
Coconat kreiert dabei ein offenes und diverses Gemeinschaftsleben, in welchem jede*r seinen/ihren individuellen und kollektiven Ideen nachkommen kann, ganz egal in welchem Bereich. Unser Ziel ist ein inklusives und bereicherndes Umfeld für alle zu schaffen.

  • 1978

    Minneapolis

  • St. Louis

  • San Francisco

  • Vietnam

  • Berlin

  • 2024

    Klein Glien, Bad Belzig

Glaubst du, Menschen in Ostdeutschland können besser mit Veränderungen bzw. Wandel umgehen?

3 von 5
Stimme gar nicht zu
Stimme voll und ganz zu

Fühlst du dich ostdeutsch?

Nein. Am Ende bin ich immer noch US-Amerikanerin. Selbst wenn ich die Frage beantworten müsste, ob ich mich (gesamt-)deutsch fühle, wäre die Antwort nein.
Dabei gibt es gar nichts, was mich stört. Ich fühle mich hier sehr wertgeschätzt und bisher noch nie zurückgewiesen oder ausgeschlossen. Vielmehr werde ich häufig wie ein Familienmitglied behandelt. Trotzdem sagt mir mein eigenes Gefühlt, dass ich mich nie deutsch fühlen werde. Ich mag meine Identität auch so, wie sie ist. Durch sie habe ich meine eigenen Perspektiven auf die Welt.

Welche Erfahrungen hast du in Ostdeutschland gemacht?

Als Nicht-Deutsche hatte ich nur geringe Erwartungen davon, was es bedeutet, in „den Osten“ zu ziehen. Als US-Amerikanerin versuche ich aber ständig, mich im Erkennen von Ungleichheit zu verbessern. Indem ich zunächst versuche, mir bewusst darüber zu werden, welche vorgefassten Meinungen es gibt, werde ich auch sensibel für meine eigene Interaktion und kann Machtpositionen besser erkennen. Ich erwähne das, weil ich in den Ansichten einiger Deutscher so viele Vorurteile gegenüber anderen Deutschen entdeckt habe. Dabei habe ich auch gespürt, wie der Osten während des Prozesses der Wiedervereinigung herabgewertet oder schlechter behandelt wurde. Ich hoffe, ein Teil der Heilung dieser Beziehung zu sein, die wunderbaren Aspekte der Kultur hier aufzeigen zu können und Teil der nächsten Kapitel zu sein, die die Zukunft mitgestalten werden.

Glaubst du, Westdeutsche hatten nach der Wiedervereinigung im Osten Vorteile?

Ich war nicht hier und habe die Wiedervereinigung deshlab nicht aktiv miterlebt. Meine Eindrücke stammen von Beobachtungen, die ich gemacht habe seit ich hier in Deutschland bin und aus den Erzählungen anderer. Ich habe von Unternehmen gehört, die aus dem schlichten Grund aufgekauft wurden, sie zu schließen und Konkurrenz abzubauen oder über riesige Mengen Land, das sich reiche Familien geschnappt haben. Ich selbst lebe in einem Dorf, das vollständig einer einzigen Familie gehört.

Außerdem habe ich gehört, dass Frauen früher mehr Unterstützung in der Kindererziehung hatten und sich deshalb besser weiter entwickeln konnten. Leider gehört das zu den Dingen, die nach der Wiedervereinigung keine Fortführung fanden und erst jetzt langsam wieder implementiert werden. Ich denke, dass der Westen auf die ein oder andere Weise verpasst hat, von seinen östlichen Cousins zu lernen. Dazu gehören „Subbotnik“, Feminismus, Social Design und vieles mehr.

Was hast du in Ostdeutschland gelernt?

Ich lebe an einem Ort, der vor sehr kurzer Zeit noch ein anderes Land war. Ich kann dabei mit Menschen sprechen, die in diesem Land geboren wurden. Die Geschichten, die sie erzählen, sind die Geschichten dieses Landes und gleichzeitig des Ortes, an dem wir gerade stehen. Ich liebe es nachzufragen, wie die Dinge waren und mich mit Zeitzeugen über den Ort auszutauschen, an dem sich heute unser Projekt befindet.

Im Haupthaus, in dem ich gerade sitze, erzählen die Geschichten der früheren Bewohner Erlebnisse von drei verschiedenen Nationen. Die Kinder der Adelsfamilie, die das Haus gebaut hat und 1945 fliehen musste, kamen einmal zu Besuch. Gleichzeitig kommen auch die Menschen, die geboren wurden, als das noch ein gemeinschaftlicher Wohnbereich war, immer wieder hier her. Nun ist unser Projekt hier. Für mich ist es eine wahnsinnige Bereicherung, die Geschichte dieses Hauses zu kennen.

Was wünscht du dir für Ostdeutschland?

Was ich mir für Ostdeutschland wünsche, wünsche ich mir für alle: Dass verschiedene Kulturen anerkannt, gesehen und wertgeschätzt werden. Ich wünsche mir, dass Inklusion möglich ist, wenn Menschen von anderen Orten kommen.

Wenn ich in die Zukunft schaue, wünsche ich mir, dass sich Dinge, die einmal geteilt waren, nun auf Lösungen fokussieren, die mit dem arbeiten, was bereits existiert. Nur so können Ressourcen und menschliche Talente wertgeschätzt werden. Ich kann mir vorstellen, dass Ostdeutschland dabei ein positiver Wegweiser für andere Länder werden kann, in denen zwei Kulturen und Konflikte existieren. Dabei geht es darum zu zeigen, wie zwei Kulturen erfolgreich kooperieren und miteinander existieren können.

Alles in allem sehe ich hier eine leuchtende Zukunft warten – und ich freue mich sehr, diese mit meiner eigenen Geschichte zu verweben.