Wir sind der

Osten

Linda Hein

Linda Hein ist Schulbibliothekarin und 1985 in Grimma geboren und in Naunhof aufgewachsen.

Gegangen: Linda lebt heute in Dreieich.

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Weshalb bist du gegangen?

Ich bin des Jobs wegen gegangen. Meine große Liebe kam zum Glück mit mir und wir haben uns in Hessen ein neues Leben aufgebaut. Geplant waren 2 Jahre, nun sind es 11 und das Zurückgehen wird immer schwerer. Ich vermisse manchmal die Stadt, in der ich aufgewachsen bin und liebe Leipzig für sein Flair.
Meine Familie empfand Mitleid, als ich wegzog, sie kennen „den Westen“ nicht wirklich. Andersherum ist es allerdings genauso. Das ist sehr schade. Ich sehe kaum Interesse an der Mentalität und Geschichte der jeweils anderen, weder bei Ost- noch bei West-Deutschen. Ich glaube, meine Oma wirft mir den Wegzug in den Westen bis heute vor, aussprechen würde sie es aber nie.

Wie gestaltest du die Zukunft?

Ich arbeite in einer großen Schule (1650 Schüler*innen) und versuche, Jugendliche mit interaktiven Ausstellungen, Mitmachaktionen und geeigneten modernen Medien zu Gesprächen miteinander zu animieren. Ich möchte Demokratie stärken und lege viel Wert darauf, WIE miteinander gesprochen wird, denn bei Sprache beginnt vieles im Kleinen. Respekt vor anderen Denkweisen, miteinander reden statt verurteilen, das ist mir wichtig. Neben dem Job engagiere ich mich im Ortsvorstand bei den Grünen und bringe auch meine ostdeutsche Mentalität und Sichtweise dort ein. Ich habe außerdem eine Patenschaft für ein Kind in Südamerika übernommen und unterstütze Organisationen wie Amnesty International und NABU.

  • 1985

    Grimma

  • 2019

    Dreieich

Glaubst du, deine Wende-Erfahrung bzw. die Wende-Erfahrung deiner Familie hat dich auch für den Digitalen Wandel gewappnet?

4 von 5
Stimme gar nicht zu
Stimme voll und ganz zu

Fühlst du dich Ostdeutsch?

Ich wurde zum Ossi, als ich nach Hessen zog. Gleichaltrige haben andere Erinnerungen an ihre Kindheit und sprechen über andere Dinge aus früherer Zeit. Das Frauenbild, das ich bis dahin hatte, wurde in Hessen (von Älteren) ganz anders gesehen. Was ist schon normal? Mein normal war anders als das der Leute hier.
Das führte zu vielen interessanten Gesprächen und neuen Blickwinkeln. Trotzdem empfinde ich etwas in mir als ostdeutsch. Das Miteinander, für andere einstehen, es ist einfach anders. Die vielen Kulturen in Hessen haben mich gelehrt, dass anders nur anders ist, nicht schlechter. Das führt mit meiner Familie manchmal zu Konflikten, weil wir jetzt unterschiedliche Ansichten haben.

Wie beeinflusst dich deine ostdeutsche Herkunft?

Ob das ostdeutsch ist oder eher Charakter: Es fiel mir sehr schwer, mir eine politische Meinung zu bilden, und auch heute noch kostet es mich Überwindung, meine Meinung öffentlich zu äußern oder gar mit Gegenwind klarzukommen. In meiner Familie war (in meiner Erinnerung) kaum jemand politisch, ich erinnere mich nicht an Gespräche über politische Geschehnisse bis weit in die 90er rein. Engagement der Sache wegen, das kannte ich eher von städtischen Festen, aber nie wegen einer Meinung, einer Haltung. Das musste ich mir selber erarbeiten.

Was wünscht du dir für Ostdeutschland?

Ich wünsche mir, dass wir aufhören, über Ost- und Westdeutsche zu reden. Doch bis wir da angelangt sind, braucht es eine wirkliche Aufarbeitung und die Verankerung der DDR-Zeit in den Lehrplan, denn sonst fehlt es vielen jungen Menschen an Verständnis und die Gräben werden tiefer. Ich wünsche mir, dass West- wie Ostdeutsche sich als Europäer sehen, als Erdenbewohner, die Mitmenschen als Mensch behandeln.
Alte Wunden müssen endlich wahrgenommen werden, um heilen zu können, sonst wird jeglicher Frust immer weitergegeben an die nachfolgenden Generationen.