Wir sind der

Osten

Prof. Dr. Thomas Müller-Bahlke

Thomas Müller-Bahlke

Prof. Dr. Thomas Müller-Bahlke ist 1959 in Mexiko City geboren und später in den Osten gezogen.

Rübergemacht: Thomas wohnt aktuell in Halle, wo er als Historiker und Stiftungsleiter arbeitet.

Foto: Thomas Meinicke

Das Profil teilen:

Weshalb hast du in den Osten rübergemacht?

Anlass waren im Herbst 1989 Forschungen für meine Dissertation in frühneuzeitlicher Geschichte. Dafür musste ich in das Archiv der Franckeschen Stiftungen nach Halle. Halle war am Ende der DDR sehr heruntergekommen, aber in der Wende einer der spannendsten Orte des Aufbruchs und des Neubeginns. Diese Mischung habe ich als große Chance empfunden, denn voller Enthusiasmus und Tatendrang wollte ich mit anpacken, etwas bewegen, etwas gestalten und hier konnte ich das – viel besser als im Westen, der mir im Vergleich dazu saturiert und langweilig erschien.

Wie gestaltest du die Zukunft?

Heute leite ich die Franckeschen Stiftungen zu Halle und habe so die Möglichkeit, eine der großen Kultureinrichtungen in Mitteldeutschland mit zu entwickeln und als Leuchtturm der kulturellen Bildung zu platzieren. Gerade Ostdeutschland ist besonders reich an kulturellem Erbe. Dies nicht nur zu bewahren, sondern es zu erschließen und für breite Zielgruppen lebendig werden zu lassen und es für die Gegenwart fruchtbar zu machen, ist eine spannende, erfüllende und lohnende Aufgabe. Unser kulturelles Erbe in Ostdeutschland ist Anker und Identifikationspunkt für uns und Anziehungspunkt für Touristen aus aller Welt.

  • 1959

    Mexiko City

  • Frankfurt am Main

  • Lüneburger Heide

  • 2020

    Halle

Glaubst du, Menschen in Ostdeutschland können besser mit Veränderungen bzw. Wandel umgehen?

4 von 5
Stimme gar nicht zu
Stimme voll und ganz zu

Fühlst du dich ostdeutsch?

Ja und nein. Hier in Ostdeutschland habe ich mein halbes Leben verbracht, meine Familie gegründet, meine Berufslaufbahn absolviert, hier werde ich in Kürze Großvater und hier bin ich zuhause. Aber ich fühle sehr oft, dass ich ein Zugereister bin, woanders sozialisiert wurde, in einer anderen Gesellschaft herangewachsen bin und deswegen anders geprägt bin als meine Freunde und Kollegen, die in der DDR gelebt haben.

Welche Erfahrungen hast du in Ostdeutschland gemacht?

Meine Familie hat meine Pläne von Beginn an unterstützt, nicht nur weil sie teilweise selbst aus Halle kommt, sondern weil sie den herrschenden Aufbruchsgeist gut fand. Manche Freunde und Bekannte haben dagegen noch Jahrzehnte später mit Unverständnis reagiert, weil gerade Halle und Umgebung einen schlechten Ruf hatten und nicht als besonders reizvoll galten. Aber wenn sie mich dann hier besuchten, haben sie meistens verstanden, was daran so faszinierend ist. Entscheidend für mich war aber, dass meine Frau diesen Enthusiasmus geteilt hat und unsere Kinder dann hier zur Welt gekommen sind.

Glaubst du, Westdeutsche hatten nach der Wiedervereinigung im Osten Vorteile?

Westdeutsche kannten das System und seine Bedingungen, das für die Ostdeutschen neu war und das nun über Nacht für alle galt. Heute verschwimmt der Unterschied zusehends. Je jünger die Menschen, desto weniger Unterschiede zwischen Ost und West lassen sich feststellen – das stimmt mich sehr optimistisch.

Was hast du in Ostdeutschland gelernt?

Deutschland hat sich seit der Wiedervereinigung sehr zum Positiven verändert. Vor der Wende waren DDR und BRD gleichermaßen kleinkariert und spießig, nur unter unterschiedlichen ideologischen und wirtschaftlichen Vorzeichen. Erst seit der Maueröffnung hat sich unser Land ganz ohne Scheu der Welt geöffnet, ist vielseitiger, toleranter und auch gelassener geworden. Daran haben die Ostdeutschen einen besonders starken Anteil, weil sie gerade am Anfang die neu gewonnene Freiheit besonders zu schätzen wussten und weil sie vorgemacht haben, wie man sich umstellt und wie man es schafft, sich in vollkommen neue Rahmenbedingungen zurechtzufinden. Dazu gehört immer auch eine gehörige Portion Mut.

Was wünschst du dir für Ostdeutschland?

Für Ostdeutschland wünsche ich mir oft mehr Selbstbewusstsein. Das heißt, die eigenen Stärken besser zu erkennen und einzubringen. In vieler Hinsicht kann der Osten Vorreiter werden, z.B. bei der Verkehrs- und bei der Energiewende. Aber ich wünsche mir auch mehr Verständnis und Vertrauen in unsere demokratischen Strukturen, ohne die ein Leben in Frieden und Freiheit nicht denkbar ist. Ich wünsche mir mehr bürgerschaftliches Engagement und die Erkenntnis, dass die demokratisch-freiheitliche Gesellschaft, für die die Menschen damals auf die Straße gegangen sind, ohne dauerhaftes persönliches Engagement nicht zu haben ist.